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Schwabenkinder

Schwabengänger, Hütekinder





Buben und Mädchen aus armen Bauernfamilien waren mindestens seit Anfang des 17. Jahrhunderts bis etwa 1950 gezwungen, bei wohlhabenderen Bauern im Schwabenland ihr Auskommen als sogenannte Schwabenkinder oder Schwabengänger zu bestreiten. In einem Artikel einer Tiroler Zeitung vom 5. Juni 1914 wird sogar angenommen, dass diese Wanderbewegung bereits um 1600 begonnen habe, leider jedoch, ohne irgendwelche Quellen zu nennen. Da der Boden in der Heimat zu wenige Erträge bringt und die Armut in vielen Höfen der Bürgerschaft Einzug gehalten hat, werden die Kinder der Armen alljährlich über den Gebirgskamm der Allgäuer Alpen oder über Füssen in die Gebiete um Kempten oder Isny sowie in das Land um Ravensburg geschickt, um dort ihren Dienst als Hütejungen oder Kindsmagd anzutreten. Der Kinderreichtum war dabei groß, in alten Chroniken steht zu lesen: "...Drei Schwestern hatten 36 Kinder und dann gab es zwei Ehepaare, die in 60 Jahren mit Kindern und Kindeskindern zusammen 120 Kinder gehabt haben..." 14- bis 16-köpfige Familien waren durchaus keine Seltenheit.

(“Der Landarbeiter”, 1913, Nr.5)
“Wie jedes Frühjahr, so kommen auch heuer am 28. März die Tiroler Hütekinder in Friedrichshafen durch den ‘Hütekinderverein’ zum ‘Verkauf’.”

Bereits die Wanderung ins Bodenseegebiet und nach Ravensburg ist oftmals eine Tortur für die meist 7 bis 14jährigen Schwabenkinder, die häufig nicht mehr an Gepäck mitbringen als die Kleidung die sie am Leibe tragen und ein wenig Wegzehrung. Im März sind die meisten Passhöhen in den Alpen noch tief verschneit und Nebel und Wind macht ein Vorankommen zudem noch schwieriger. Das Schuhwerk der kleinen Mädchen und Jungen vermag die Füße meist nicht lange trocken zu halten und die Kälte tut noch ihr Übriges.

Oft ist aber die Trennung von den Eltern noch schmerzhafter und schwerer zu bewältigen, als die äußeren Einflüsse. Alleine in die Fremde gehen zu müssen, dürfte für so manches Kinderherz eine enorme Belastung bedeutet haben. Nur manchmal
hatten die Kinder das Glück von den Dienstgeberfamilien so herzlich aufgenommen bzw. angenommen zu werden, als ob es die eigenen wären. Viel häufiger kam es vor, dass die Kinder gleich oder schlechter wie das übliche Dienstvolk behandelt, in extremen Fällen sogar wie kleine Sklaven gehalten und auch vor sexuellen Übergriffen nicht Halt gemacht wurde.

Was man heute vermutlich salopp als "Ferialjob" bezeichnen würde, war tatsächlich harte Knochenarbeit, gepaart mit durchaus vorkommender sozialer Isolation und äußerst dürftigen Lebensbedingungen. Die Hütekinder hatten ihre Unterkünfte nur allzu oft in den Ställen beim Vieh und die Schulbildung war in dieser Zeit ausgesetzt, da in Schwaben die Schulpflicht für die Tiroler, Vorarlberger und Schweizer Kinder erst Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, was jedoch einige der jungen Schwabengänger weniger gestört haben dürfte. Ab 1893 wird dann in Schwaben wie auch in Bayern eine Schulpflicht für Kinder unter 14 Jahren eingeführt und die Verdingkinder mussten vormittags die Schule besuchen. Diese Entfallszeit wurde jedoch von den Dienstgebern nicht angerechnet und der karge Lohn der Kinder schrumpfte durch diese Maßnahme noch weiter.

(Vorarlberger Volksblatt, 10. März 1893)
"...es ist hart, dass die Kinder den früheren Lohn nicht mehr erhalten; aber noch härter wäre es, wenn ganze Scharen auswandernder Kinder in Ravensburg unverrichteter Dinge wieder umkehren müssten..."

(Vorarlberger Tagblatt, 22. März 1896)
"Kürzlich fand in Friedrichshafen wieder einer der althergebrachten harmlosen Sklavenmärkte statt, auf dem der Tiroler Hütkinder Verein den schwäbischen Bauern seine Schutzbefohlenen verdingt. Diesmal hatten sich 200 Kinder im Alter von 11 bis 18 Jahren eingefunden. Was am Vormittag in Friedrichshafen keinen Liebhaber gefunden, wurde Nachmittags in Ravensburg an den Mann gebracht."

Oftmals wie auf Viehmärkten - so wetterte die Partei der Sozialdemokraten - wurde um die Hütkinder auf den sogenannten "Kindermärkten" gefeilscht und diese vorgeführt. Abgehalten wurden diese Märkte in den Städten Kempten, Isny, Immenstadt (Königsegg-Rothenfels), Ravensburg, Tettnang, Pfullendorf, Wangen, Waldsee und Überlingen. Alljährlich kamen rund 6.000 Kinder aus der gesamten Alpenregion um hier in Ställen zu arbeiten oder in den Häusern zu helfen. So kam es durchaus auch vereinzelt vor, dass einige Mädchen schwanger aus der Fremde heimkehrten oder ihrem Leben ein Ende setzten um ihrer "Scham" zu entfliehen, mit einem ledigen Kind in die Heimat zurückkehren zu müssen. Allerdings blieben einige Mädchen auch auf Grund der besseren Lebensbedingungen und/oder einer gefundenen Liebe im Ausland, in der Hoffnung auf ein besseres Leben als sie es zu Hause hätten finden können.

Vor der Heimkehr stand noch der Geldwechsel an, um die Mark in Kronen zu tauschen. Nicht selten wurden die Hütkinder dabei um einen Teil ihres sauer verdienten Lohnes gebracht, wenn vom Bankinstitut ein zu niedriger Wechselkurs herangezogen wurde und manche Bank sich an ihnen bereicherte. Aber auch Diebe brachten den ein oder anderen Heimkehrer um seinen Geld.



Die Knaben blieben ebenfalls oftmals in der Ferne um dort ihr Glück zu suchen. Einige erlernten bei ihren Dienstherren einen Beruf und versuchten dann in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Auch die Eltern zu Hause mussten hin und wieder schwere Entscheidungen treffen, wenn es darum ging in die Adoptionsfreigabe der Sprösslinge einzuwilligen und um ihnen damit eine Perspektive für das zukünftige Leben zu eröffnen.

Am Beginn des 20. Jahrhunderts gerät das Hütkinderwesen und mit ihm auch der Verein der Hütkinder immer mehr unter Druck. In Tirol und Vorarlberg, wie auch den anderen Herkunftsländern der Kinder und Jugendlichen ist man nach wie vor der Auffassung, dass die Schwabengängerei viele der Familien vor dem endgültigen Ruin bewahrt. Die Diskussion in der Bevölkerung ist aber längst angestoßen und das Thema wird immer wieder auch in politischen Debatten behandelt. Doch erst als im Jahre 1914 die allgemeine Schulpflicht auch für die Hütkinder im Gastland, also allen betreffenden Regionen Schwabens und auch von Bayern eingeführt wurde, ebbte die Kinderarbeit langsam aber stetig ab.

Ausschnitt eines Interviews mit Peter Hainz aus Fließ, welcher erstmals 1897 als 10-jähriger ins Schwabenland wandern musste:

'...Ich hab schon mit 10 Jahren in das Schwabenland hinaus zu den Bauern müssen um zu arbeiten wie viele andere, also nicht nur ich, da sind ganze Scharen hinaus aus unserer Gegend. Ich hab noch zu Fuß hinaus gehen müssen, die Eisenbahn wäre zwar gefahren, aber wir haben ja kein Geld dafür gehabt. An einem Samstag ist gewöhnlich Kindermarkt gewesen in Friedrichshafen oder in Ravensburg und dort haben sich die Tiroler Kinder gesammelt und die Bauern sind vom Land her gekommen und haben die Kinder ausgesucht, die sie haben brauchen können zur Arbeit. Dann ist gemarktet worden wie bei uns, wenn Viehmarkt ist. Da hat man geschachert und die Bauern haben gefragt: Bub verlangst du Lohn? Dann hat man gehandelt und schließlich ist man eins geworden mit 50 bis 100 Mark und das doppelte Häs (Sonntags- und Werktagskleider). Dann hat man halt müssen toll arbeiten bei den Bauern, die einen haben einen guten Platz erwischt, die anderen einen schlechten. Ich hätte mich zwar nicht beklagen können, denn ich habe einen guten Platz gehabt, aber das Heimweh hat mich arg geplagt. Heimweh habe ich gehabt, die Mutter hätte halt sollen bei mir bleiben können.'


In vielen Fällen empfand man die Abwanderung der Schwabenkinder jedoch als die bessere Alternative - in jeglicher Hinsicht. In einem Artikel des Allgemeinen Tiroler Anzeigers vom 19. Mai 1914 steht zu lesen: "...nicht in sittlicher Hinsicht, da die Zustände in vielen Familien, aus welchen Hütekinder abgegeben werden, solche sind, daß man nur bedauern kann, daß die Entfernung nur eine zeitweise ist; nicht in materieller Hinsicht, denn vielfach hängt die wirtschaftliche Existenz der Familie und damit des Kindes selbst, von dessen Erwerb ab; nicht in sanitärer Beziehung, denn es wurde amtlich konstatiert, daß die aus dem Schwabenlande heimkehrenden Kinder bei der dort genossenen, ganz anders nahrhaften Kost besser aussehen und gesünder sind als zur Zeit ihres Auszuges. Die meisten Hütekinder bringen weit bessere Berufskenntnisse heim, als sie bei den dort verbliebenen, gleichaltrigen Kindern vorkommen; der landwirtschaftliche Fortschritt in den Betrieben ist in Gemeinden, aus denen Kinder auswanderten, unverkennbar, da diese Kinder in dem gewiß vorgeschrittenen Schwaben Gelegenheit hatten, Fortschritte aus eigener Anschauung kennen und schätzen zu lernen..."

Wie kam es dazu?


Die erste gesicherte Aufzeichnung von den Kindern die in die Ferne mussten, findet sich in einem Ende des 18. Jahrhunderts erschienen Buch “Uiber die Tiroler”, von Josef Rohrer. Da heißt es also: “…sobald der Bube in einigen Gerichten des Imster Kreises nur laufen kann ist er gezwungen, außer seinem Mutterlande Nahrung und Verdienst zu suchen… …die Anzahl der Knaben, welche alljährlich im Frühling vom 7. Jahre ihres Alters bis zum 17. aus den Pfarreien Delf (Telfs), Nasereit, Imst, Lermos, Reuti, Vils, Tannheim zum Pferde-, Kühe-, Schafe-, Ziegen-, Schweine- und Gänsehüten nach Schwaben ziehen, zuverlässig auf 700 angegeben”
(Quelle: “Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg”, Otto Uhlig [“Uiber die Tiroler”, Josef Rohrer])

Schon wesentlich früher aber, so kann man in vielen Chroniken und kirchlichen Mitschriften lesen, kam es zu Wanderungen von Erwachsenen. Oft wurde in den Gemeinden vor allem das Erlernen eines Handwerks gefördert, um dann diesen Gesellen in die Ferne schicken zu können und so den heimatlichen Boden zu entlasten. Erste Einträge können auf annähernd 500 Jahre zurück datiert werden und finden sich vor allem im Tiroler Oberland sowie auch in Vorarlberg.

Dies dürfte also die Basis für eine später aufkommende Kinderwanderung gebildet haben. Durch das ständige Wachstum der Bevölkerung und der Zersplitterung der Höfe durch die Realteilung (darunter ist die Aufteilung des gesamten landwirtschaftlichen Betriebes unter allen Erbberechtigten zu verstehen) in den Gebirgsregionen, vermochte der Boden dieser dadurch entstandenen Kleinstparzellen selbst die Kinder nicht mehr zu ernähren und so wanderten auch sie aus, um in der Fremde für ihre Nahrung zu arbeiten.

Erdrückende Armut


Für heutige Verhältnisse ist das Ausmaß der damaligen Armut wohl kaum fassbar. Die Bauern waren zum Teil lediglich Landbearbeiter auf gepachtetem Boden oder der Ertrag des Gutes war so dürftig, dass nicht einmal der Lebensunterhalt der Familie gesichert werden konnte. Fällt dann auch noch das Wenige durch Mißernten aus, sind die Menschen im schlimmsten Fall sogar gezwungen Ratten und Mäuse, oder sogar Gras zu verspeisen, nur um irgendwie am Leben zu bleiben.

So war es also ein kleineres Übel, den Schmerz der Trennung auf sich zu nehmen und die Kinder nach Schwaben zu schicken, als sie von den Früchten des Bodens mit durchbringen zu müssen. Zudem waren die Eltern durch den Kauf des Samens für die Bestellung der Felder und der Forderungen durch den Fiskus oftmals in Schulden geraten und konnten sich durch den Lohn, den die Tochter oder der Sohn aus der Ferne brachte, wenigstens teilweise aus der finanziellen Misere retten. Auch das "doppelte Häs" (Bekleidung von Kopf bis Fuß) entlastete das karge Budget in den ärmlichen Häusern, da die Armut im gemeinen Bauernvolk ein Dauerzustand geworden war.

Selbst in “normalen” Zeiten war beispielsweise in Reutte der Ernteertrag gerade einmal für etwa ¼ des Jahres ausreichend. Die einzige “reelle” Erwerbsquelle stellte eigentlich nur die Viehzucht dar, die allerdings ebenfalls nicht ausreichte, also musste die Wanderung ins Ausland den restlichen Bedarf decken.

In den Jahren um 1850 berichten die Gazetten immer wieder vom Bettel der Kinder. So wurde in einem Artikel aus dem Jahr 1848 gar von österreichischer Seite darum gebeten, man möge doch die Kinder auch den Winter über im Schwabenland behalten. Dort könne man sie gerne mit Arbeit eindecken und zu fleißigen Menschen erziehen und sie in die Schule schicken, so würden sich diese nicht herumtreiben oder dem Vagabundenleben nachhängen.

Ausführungen von Joseph Rohrer - Uiber die Tiroler (1796)
"...auch die Kinder werden frühzeitig ihren Müttern...entrissen. Ein bejahrter (Führer) übernimmt sie, und führt dieselben, gleich einer Herde Lämmer aneinander gepfropft, außerhalb Landes. Jeder Kleine ist mit einem Kühhorn, und einem von gewürzhaften Zieger und Haberbrod gefüllten Bündel behangen. Tettnach in Vorderösterreich ist der erste Ort, an
welchem die...Jugend den Bauern zur Arbeit vermiethet wird. Der zweyte Sammelplatz, wohin dieser junge Bienenschwarm seinem Weisel nachströmt, ist die Reichsstadt Ravensburg, der dritte Weingarten, der vierte endlich Waldsee. Im Spätherbst werden die...Kleinen wieder von den alten Graubärten abgeholt, und in ihre schrofige Heimath zurückgeführt..."

"...diesem schließe ich noch bey, daß die Wälschtirolischen Bergknaben als Schornsteinfegerjungen in das Heilige Römische Reich und die österreichischen Erbländer bis nach Peterwardein verschickt werden. Auf diese Art wird die Betriebsamkeit bereits mit den ersten Jahren in das Mark der tirolischen Sprößlinge verwebt..."

"...die meisten dieser guten Kinder sammeln sich zur Marktzeit in der Reichsstadt Kempten, wo sie den Bauern um die leidentlichsten Bedingungen zu Gebothe stehen. Sie folgen dann ihrem neuen Herren in das Kemptische, Königseck-Rothenfelsische und Isnische Gebieth, in welchem die wegen ihrer guten Weide berühmten Algauischen Alpen großentheils liegen. Oefters wenn ich gerade durch das Algau fuhr, sah ich nicht ohne heimliche Freude dergleichen hütende Tirolerknaben gleich nordamerikanischen Wilden, mit Strohmänteln behangen, die weitläufigen Wiesen, um ihres Viehes Zucht und Ordnung willen, baarfuß durchlaufen. Um Martini kommen sie insgemein in ihre schrofige Heimath wieder zurück, munter und fröhlich wie junge Schwalben..."


Aus: Ausferner Bote vom 22. November 1923
Betreff: Sommerschule; Hütkinder
Zur Ausgestaltung bezw. Verbesserung der Landschule ist ein regelmäßiger und erweiterter Schulbesuch unbedingte Voraussetzung. An sämtlichen systemmäßigen Landschulen und an einigen Notschulen des Bezirkes ist die 9 monatliche Unterrichtszeit mit 6 jähriger Sommerschulpflicht durchgeführt. Schwierigkeiten bringt nur die Hütbubenfrage im Frühjahre. Wenn aber die Bevölkerung ihre Bedürfnisse hierin aus der Sommerschule entwachsenen Knaben deckt, deren Zahl umsomehr jetzt hinreicht, als die Auslandsaktion aufzuhören anfängt, so wäre Abhilfe geschaffen.
Die Ortsschulräte und Schulleitungen haben in diesem Sinne zu wirken und insbesondere den Gemeinden nahe zu legen, daß vor durchgeführter Befreiung vom Sommerschulbesuche ein Hütknabe nicht angestellt werden darf.


Links


Die Schwabenkinder - Interreg IV-Projekt


Grän
aggenstein, aggenstain, maggenstain, grän, lumberg

Blick auf Berwang
Berwang

Festzug
männergesangsverein, reutte, obermarkt, festzug, umzug


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