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...und alle wollten auswandern...
Salzburger Nachrichten vom 23. Feb. 1950
Und alle wollten auswandern . . .
. . . und heute gibt Namlos—Kelmen ein Beispiel an Unternehmungsgeist
Nicht die wirtschaftliche Krise der Dreißigerjahre allein war daran schuld, daß die Einwohner von Namlos und Kelmen im Berwangertal daran dachten, Haus und Hof zu verlassen und sich anderswo eine neue Heimat zu suchen. Damals lagen die beiden kleinen Dörfer (fast möchte man sie nur als Weiler bezeichnen) auf dem Nervenstrang irgendeines Erdbebenherdes und in regelmäßigen Abständen wiederholten sich die Erschütterungen, die alles zu vernichten drohten. So redete damals jeder davon, nach Südamerika oder ins Innere Österreichs auszuwandern, nur um das unsichere Gefühl, auf einem Pulverfaß zu sitzen, loszubekommen.
Seit Jahren aber hat man keinen Stoß mehr verspürt. Manche behaupten, vor fünf Jahren sei der letzte erfolgt, andere wissen schon zehn Jahre lang von keinem Erdbeben mehr. Und es hat fast den Anschein, als seien die Alten noch rüstiger und die Höfe noch sicherer geworden, seit Namlos und Kelmen in der Frühjahrssitzung des Tiroler Landtages von 1949 zu einer eigenen, selbständigen Gemeinde vereint und von Stanzach losgelöst wurde. Jahrzehntelang hatten die Namlos-Kelmener auf dieses Ziel hingearbeitet. Und seit sie es erreicht haben, sind sie darüber nicht nur glücklich, sie wollen auch durch ihre Arbeit zeigen, daß sie die Auszeichnung verdient haben. Schon im Laufe des letzten Sommers haben sie begonnen, in fleißiger Gemeinschaftsarbeit Namlos und Kelmen zu elektrifizieren. Die meisten Höfe haben ihren Anschluß bereits. Die anderen bekommen ihn demnächst. Wenn der Schnee weg ist und sich die Arbeiter wieder ins Gelände wagen können. Telephon gibt es bis heute noch keines. Aber der Bürgermeister hat die Verhandlungen mit der Postdirektion schon aufgenommen und hofft, im nächsten Frühjahr den Anschluß ans öffentliche Fernsprechnetz durchführen zu können. Radio: bis dato ein Märchen. Interessenten jedoch gibt es hiefür mehr als genug. Seit dem Geburtstag dieser jüngsten Gemeinde Tirols hat auch eine rege private Bautätigkeit eingesetzt und in Kelmen ist man dabei, ein großes Sägewerk "für alle" zu errichten.
Über zwei Sachen freilich zerbrechen sich die Namlos-Kelmener den Kopf bis zur Stunde vergebens: Über die Zufahrtsmöglichkeiten. Im Sommer wird die schmale Straße bei jedem ausgiebigeren Regenwetter vermurt. Und im Winter sind es die Lawinen, die den Verkehr unterbrechen. Kommt Zeit - kommt Rat: Einmal wird man auch dieses Übel beheben. Und wer heute Lawinen und Murbrüchen zum Trotz, die jüngste Tiroler Gemeinde besucht, wird mit alter Gastfreundlichkeit bewirtet.
das Gasthof Kreuz in Namlos - Foto: Ludwig Reiter - vmtl. 60er Jahre
