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Ein Gemssteig im bayerischen Hochgebirge (1857)
Aus: Kemptner Zeitung vom 1. Sep. 1857

Füssen von Westen mit Säuling
Die Pracht der Hochgebirge war mir durch Bücher und Reisende so oft geschildert worden, daß ich keinen größeren Wunsch kannte, als den, mich mit eigenen Augen davon überzeugen zu können. Einige freie Tage und ein nicht übermäßig gefüllter Geldbeutel machten es mir möglich, das bayerische Hochgebirge zu besuchen. Von München reiste ich über den Starnberger See nach dem Hohenpeissenberge, und nachdem ich von dort sowohl beim Sonnen-Unter- wie Sonnen-Aufgang die weißköpfigen Riesen, die sich um die Zugspitze malerisch gruppiren, bewundert hatte, eilte ich nach Füssen, um von dort aus eine Fußtour in's Innere des Gebirges anzutreten. Mein Plan war, von Füssen über Reutte nach Partenkirchen zu wandern, jedoch möglichst die gewöhnlichen Pfade der Menschen zu vermeiden und recht durch die Wildniß, wo nur die Gemse grast und der Steinadler horstet, zu wandern. Ich dachte mir dies zwar mit einigen Schwierigkeiten verbunden, aber doch ohne Gefahr, besonders, da ich in meiner Heimath für einen tüchtigen Bergsteiger galt, dem noch nie ein Berg zu steil oder zu hoch gewesen war.
Nachdem ich von Füssen über den Alpenrosenweg nach dem reizenden Hohenschwangau gekommen und das Schlößchen bewundert hatte, erkundigte ich mich nach dem Wege nach Reutte. Jeder, den ich fragte, wies mich natürlich auf den sogenannten Königsweg, eine prachtvolle, von König Max angelegte Chaussee, allein, das war mein Weg nicht. Ich wollte einen romantischen Weg, auf dem ich einen rechten Begriff von dem herrlichen Gebirge bekommen konnte. Endlich traf ich in dem Wirthshause zur Alpenrose einen Mann, der halb wie ein Jäger, halb wie ein Bauer, jedenfalls aber sehr romantisch aussah und der mir einen andern Weg recht durch die wildesten Partieen des Gebirges angab.
"Wenn du halt einen aparten Weg haben willst," sagte er, "so geh den Gemssteig, er ist zwar a Bissel steil und auch an manchen Stellen verschüttet, allein mit einem Führer geht's schon." Auf meine Frage, was der Gemssteig sei, setzte man mir auseinander, es sein ein Pfad den König Max "zur bequemeren Ausübung der Gemsjagd" an den Abhängen des Säuling und der in der Nähe liegenden Berge habe anlegen lassen und der allerdings für einen Gemsjäger ziemlich bequem sei. Da ich hörte, der Weg sei angelegt, und ich mir auch mindestens so viel zutraute, wie so ein städtischer Gemsjäger, für welche der Weg gemacht war, so verzichtete ich auf jeden Führer.
Gestärkt durch ein gutes Frühstück, machte ich mich trotz aller Warnungen, nicht allein zu gehen, gegen zehn Uhr auf den Weg. Sanft zog sich der Weg, der überall ganz geebnet war, von den Ufern des Alpsee's empor, jede kleine Schlucht war zierlich überbrückt, und alle zehn Minuten lud eine Bank an einem Punkte mit neuer herrlicher Aussicht zum Ausruhen ein. Das ging wohl anderthalb Stunden an dem Abhange des Säuling so fort, Hohenschwangau erschien nur mehr als ein gelblicher Punkt, und der Alp- und Schwansee als zwei kleine Lachen. Der Weg wurde nun allmählich steiler, jedoch noch immer ganz gangbar; allerdings kamen manchmal Stellen, wo durch das Herabstürzen eines Felsens oder durch einen kleinen Gießbach der Weg auf eine kurze Strecke unterbrochen war, allein solche Passagen machten mir Vergnügen, und mit Stolz blickte ich hinter mich, wenn ich mittels meines großen Alpenstockes eine derartige Schwierigkeit überwunden hatte. Die zierlichen Brücken hatten sich längst in einfache Baumstämme verwandelt, über die ich öfters, um keinen Schwindel zu bekommen, rittlings rutschen mußte. So ging's beinahe zwei Stunden lang fort. Schon wiegte ich mich in dem Traume, bald Gemsen zu sehen, und bedauerte nur, mein gutes Jagdgewehr nicht auf den Schultern zu haben, da endete der Weg, der schon öfters ganz dicht an den steilen Felsen vorbeigeführt, plötzlich.
Eine Felswand machte jedes weitere Vordringen unmöglich. Nach längerem Hin- und Hersuchen fand ich eine Spalte im Felsen, in welcher unverkennbare, roh ausgehauene Stufen in die Höhe führten. Mein Entschluß war schnell gefaßt, ich kletterte zwanzig Fuß in der Spalte hinauf und kam dann auf ein großes, weites Feld von Steingerölle, eine sogenannte Roffel (?), die oben ringsum von majestätischen Felsen begrenzt wurde. Ich kletterte weiter, bald sah ich jedoch ein, daß das Weiterklettern ohne Zweck war, denn der steile Felsen oben bot keinen Ausgang. Ich wollte nun zurück; ich drehte mich um, allein der Blick in die Tiefe machte mich grausen, ich befand mich auf einem Felsvorsprunge, und Hunderte von Fuß ging's herunter, ich mußte mir die Augen zuhalten, um nicht von einem unwiderstehlichen Schwindel befallen zu werden. Wie wollte ich meine Felsspalte, an der ich hinaufgeklettert war, wieder finden, wenn schon jeder Schritt, den ich, mindestens zehn Meter vom Felsrande entfernt, hinunter machte, mich unwiderstehlich in den Abgrund zu ziehen schien! Und dann, wenn ich die Spalte gefunden, konnte ich dieselbe, die ich mit der größten Mühe hinaufgeklettert war, auch wieder herunter klettern? Ich war wie vernichtet. Dazu kam eine unerträgliche Hitze; jeder Sonnenstrahl wurde von der Felswand wiedergestrahlt.
Ein fürchterlicher Durst plagte mich, und meine Feldflasche enthielt längst keinen Tropfen mehr. Doch ich ermannte mich, ich dachte, wo andere Menschen gewesen seien und einen Ausweg gefunden hätten, da würde auch ich wohl einen Ausweg finden. Drei Stunden suchte ich vergebens. Vor mir Felsen, unter mir Felsen, und zu beiden Seiten tiefe, von wilden Gießbächen zerrissene Schluchten. Ich ließ meine Stimme nach allen Himmelsgegenden hin erschallen, mir antwortete nur das Echo; sonst war alles todtenstill, nur die Raubvögel, die in einem Felsen vor mir nisteten, kreischten, als freuten sie sich schon auf ihre Beute. Der Muth war mir gesunken, ich saß auf einem Felsblock und machte meinem gepreßten Herzen durch Thränen Luft. Da sah ich plötzlich, wie die Schatten der Berge länger wurden, wie der Schnee, vergoldet von der Sonne, eine andere Färbung annahm. Der Gedanke, allein und verlassen, von Hunger und Durst geplagt, in diesem Steinmeer die Nacht zubringen zu müssen, ermunterte mich zu einer neuen Kraftanstrengung.
An dem Felsen, der mir oben den Ausgang sperrte, war ich an der linken Seite, wo er sich an die tiefe Schlucht anschloß, noch nicht ganz bis oben hinaufgeklettert. Mit unsäglicher Mühe gelangte ich nach einer Anstrengung von drei Viertelstunden dorthin. Ich fand, daß das Steingerölle sich etwas um den Felsen herumzog und allmählich die Schlucht, die tiefer unten mich angähnte, ausfüllte und daß ich dort weiter hinaufklettern konnte. Weiter ging's von einem Felsblock zum andern, immer mehr schloß sich die wilde Schlucht, auf einmal lachte mir grüner Rasen entgegen; ich fand Spuren von Rindvieh. Neuer Muth, neue Hoffnung stärkten mich zu erneuten Anstrengungen. Wo die Kuh, und wäre es auch die gewandteste Alpenkuh, hinklettern kann, da hoffte auch ich mir Bahn hin brechen zu können. Mochte mir auch die Zunge am Gaumen kleben, mochten auch die Füße mir die fürchterlichsten Schmerzen bereiten, mochte auch die Lunge beinahe meine Brust sprengen, stets ging es aufwärts.
Bald ermunterte mich das Klingen der Viehglöckchen, ich drang weiter vor. Wie erfreute mich der erste Anblick einer weidenden Kuh! Ich sah endlich in einiger Entfernung ein Hütte. Damit war aber auch meine Kraft gebrochen; plötzlich glaubte ich, es ströme all mein Blut in meiner Brust und in meinem Kopfe zusammen, mir wurde dunkel vor den Augen, ich verlor das Bewußtsein.
Wie lange ich so da gelegen haben mag, kann ich nicht sagen, ein frischer Wind belebte mich wieder, und an einigen rothen Wölkchen, die hoch über dem Gebirge schwebten, erkannte ich, daß die Sonne längst untergegangen. Ich wußte mir kaum zu erklären, wie ich auf die schwindelnde Höhe hinaufgekommen war, allein der brennende Durst, der mich noch immer schrecklich quälte, führte bald Alles in mein Gedächtniß zurück, was ich an dem Tage schon erlebt und ausgestanden hatte. Ich erkannte im Halbdunkel in der Entfernung die Hütte und schleppte mich dahin. Bei offener Thür fand ich in derselben einen Mann und zwei Kinder. Mein erstes Wort war "Wasser". Der Mann sah mich ruhig an und sagte dann: "Ich geb' dir kein Wasser, es wär dein Tod; setz dich," damit räumte er mir seinen Stuhl ein, "ich hol' dir eine Milch von der Kuh." Ich wurde nun erst recht aufmerksam auf meinen Zustand; mein fliegender Puls, meine hochathmende Brust sagten mir, daß der Naturmensch meinen Zustand sogleich erkannt hatte; ich fieberte stark.
Bald kam der Senner mit frischer Milch wieder. "Sie ist halt nicht für den Durst," sagte er, "beruhigt aber ein wenig." Ich trank ein wenig. Der Mann plagte mich nicht mit unnützen Fragen, er wußte, daß Ruhe mein nothwendigstes Bedürfniß war. Als meine Brust ruhiger war und mein Puls weniger heftig schlug, begann er: "Thust mir leid, daß du bist hinaufkommen. Ich hab' nichts heroben." - O, sagte ich, ich bin leicht befriedigt, ein Stück Brod und ein Trunk frischen Wassers genügt mir. - "Brod hab' ich eben keins, ich kann dir nichts geben, wie a Käs, a Butter und a Milch. Halt, da fällt mir was ein, ich mach' dir einen Schmarren. Wenn du den gegessen hast, darfst du auch Wasser trinken."
Geschäftig nahm er nun einen, mit vorweltlichem Schmutz überzogenen Topf, stellte ihn an's Feuer und begann nun von Mehl und Butter eine Speise zu bereiten, wofür ich aus unserer Kochkunst keinen Vergleich wüßte, denn er fabrizirte Mehlklümpchen, die dann von der Butter durchdrungen wurden. Der Schmarren wurde mir vorgesetzt, allein ich konnte nur einige Bissen davon hinunter würgen, obschon ich mir alle Mühe gab. In dem Topfe mußten noch alle möglichen ranzigen Reste von Butter gesteckt haben, die dem Ganzen einen etwas pikanten Geschmack gaben. Ich hatte jedoch den Vortheil davon, daß ich Wasser trinken durfte. Der gute Mann hatte aber sicher Recht, wenn er mir früher das Wasser versagt hatte, denn es war eiskalt und würde bei meinem aufgeregten Zustande leicht einen Schlaganfall herbeigeführt haben. Glücklicher Weise fiel mir nun auch ein, daß ich einige Stückchen Chokolade noch in meinem Reisetäschchen hatte. Schnell setzte ich einen Topf, den ich übrigens vorher an der Quelle möglichst reinigte, an's Feuer und kochte mir mit der herrlichen Milch eine Chokolade, die mir ganz ausgezeichnet mundete; ein Stück Käse, jedoch ohne Butter, als Zugabe, vollendete die Abendmahlzeit. Nun plauderte ich gemüthlich mit meinem Wirthe; er meinte, mein Schutzengel müßte mich beschützt haben, daß ich nicht verstürzt sei; erst voriges Jahr habe ein kühner Wilddieb dort seinen Tod gefunden.
Nun kam die Zeit des Schlafens. Ein Bett war nicht vorhanden. Der gute Mann wollte mir alle möglichen alten Säcke und Lumpen, nebst seinem besten Wamms zum Lager geben und konnte kaum begreifen, daß ich es vorzog, auf dem Heu zu schlafen. Ich schlief sehr unruhig, meine Nerven waren zu aufgeregt, und darum war ich schon mit Tagesanbruch auf den Beinen und genoß nun allerdings einen Anblick, der mich die vergangenen Leiden vergessen ließ. Als ich so im Anschauen des Gebirges versunken war, klopfte mir mein Wirth plötzlich auf die Schulter, indem er sagte: "Nu, es freut mi, daß du gesund bist. Mir hat diese Nacht träumt, du seist krank. Da litt's mir nicht länger, ich bin aufgestanden und hab nach dir geschaut und ich war froh, wie ich merkt, daß dein Brust ruhig ging. Wie du gestern kamst, sahst du bös aus; ich dacht, du bekämst ein schlimmes Fieber."
Ich nahm Abschied von meinem guten Hauswirthe, Geld nehmen wollte er nicht, das Einzige, was er nicht ablehnte, war, daß ich ihm beim Krämer unten im Thal zwei Pfund Tabak kaufen sollte à 12 kr. das Pfund. Sein ältester Junge führte mich nach manchem herzlichen "Gott behüt dich", den Berg hinunter. Jetzt bekam ich eigentlich erst einen Begriff davon, in welcher Gefahr ich geschwebt hatte; ich sah deutlich, wie ich allmählich auf einer ziemlich breiten Terrasse einen senkrechten Felsen von 2- bis 300 Fuß erklettert hatte. In einem kleinen Orte vor Reutte angelangt, kaufte ich dem Knaben so viel Tabak, als er tragen konnte, und bezahlte dem guten Senner seine Schuldenlast von - 48 kr. beim Krämer. Dem Knaben gab ich noch einige Kleinigkeiten und ging dann nach Reutte, wo ich mich im Gasthofe zur Post bei einem guten Glase Ungarwein von meinen Strapazen erholte. Ich habe übrigens den festen Entschluß gefaßt, im Hochgebirge nie mehr ohne Führer größere Bergpartien zu machen.