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Beim Molkensieder von Tannheim
Wie Molkeverwertung Devisen sparen hilft
Aus: Tiroler Tageszeitung vom 19. Aug. 1950
„Und was ist dein Vater von Beruf?“ fragte der Lehrer der Volksschule Zöblen im Tannheimer Tal jüngst eine Schülerin. „Molkensieder!“ war die Antwort. Womit das Mädchen recht und unrecht hatte, denn „Molkensieder“ ist ein Beruf, den es nicht gibt, während andererseits jeder Einheimische weiß, daß so und nicht anders der Doktor der Chemie Heribert Kuntscher im ganzen Tal bezeichnet wird. Als Dr. Kuntscher 1945 zunächst in Schattwald und dann 1948 in größerem Umfang in Tannheim Molke zu „sieden“ begann, da hielten die meisten ihn für einen „Spinner“. Molke, das wässerige Abfallprodukt der Käseerzeugung, das zu über 93 Prozent aus Wasser besteht, war nämlich vor dem Kriege in Oesterreich nie in irgendeiner Form verwertet worden. Meist rann die gelblich-grüne und nicht gerade verführerisch duftende Flüssigkeit aus den Sennereien in den Kanal, bestenfalls wurde sie dem Viehfutter zugesetzt. „Molkenkuren“ wurden allerdings, besonders in Deutschland, vielerorts zur Entschlackung und Reinigung des Blutes — ähnlich der Traubenkur — durchgeführt.
Molkeverwertung ein „Kriegskind“
Die aus der Not geborene Verwertungschemie des Krieges nahm sich natürlich auch der bei der Milchverwertung so reichlich anfallenden Molke an, hat doch ein Kilogramm Molke einen Nährwert von 240 Kalorien (Vollmilch 660) und kann den ganzen Tagesbedarf eines Menschen an Vitamin C und B 1 decken. Daneben enthält Molke etwa 5 Prozent Milchzucker, 0,5 Prozent Eiweißstoffe, 0,8 Prozent Mineralsalze und 0,1 Prozent Fett. Auf der Basis dieser Rohstoffe konnten die
aus Molke gewonnenen Rohstoffe, wie Molkenpaste, Molkencreme und Molkensirup, in größtem Umfang als Zusatzmittel für die Herstellung von Schmelzkäse, Suppenwürfeln, Brotaufstrichen, Kindernährmehlen, Marmeladen usw. verwendet
werden.
Alle diese einschlägigen Fachkenntnisse standen Dr. Kuntscher zur Verfügung, und sein Unternehmen war also keine so ausgefallene Idee. Trotzdem bedurfte es großer Zähigkeit, ehe er sich durchzusetzen vermochte. Heute stehen in dem kleinen Gebäude neben der Genossenschaftssennerei Tannheim moderne Vakuumverdampfer und Separatoren, denen die Molke aus der Sennerei durch eine direkte Leitung zufließt. Daneben kann man noch die alten Wehrmachtskochkessel sehen, in denen die erste Molke auf offenem Feuer gesotten wurde. Etwa eine halbe Million Liter Molke wandern im Jahre durch die Maschinen des Molkensieders, und je 1000 Kilogramm Molke ergeben eine Ausbeute von 35 bis 40 Kilogramm Milchzucker, eines Produktes, das zwar nur ein Viertel der Süßkraft des Zuckers besitzt, aber von der Heilmittelindustrie gerade deshalb und wegen noch anderer günstiger Eigenschaften gerne verwendet wird. Die jetzige Produktion Dr. Kuntschers wandert denn auch zur Gänze zur Brauerei in Reutte, die eine ähnliche Anlage aufgebaut hat und wiederum vor allem die Penicillinwerke in Kundl beliefert.
Der biologische Viehleckstein
Das bei der Milchzuckergewinnung ausgefällte Eiweiß mit den übrigen Restbeständen an Trockenstoffen ergibt eine Masse, die dem Topfen äußerst ähnlich ist und als solcher in verschiedener Form genau so verwendet werden kann. Ein weiteres
und sehr interessantes Produkt ist der von Doktor Kuntscher entwickelte Milchsalzleckstein. Die bisherigen Lecksteine für das Vieh bestehen aus Viehsalz und feinem Lehm, der aus der Molke erzeugte Leckstein hingegen aus den vitaminreichen biologischen Milchsalzen. Die von der Kuh produzierten hochwertigen Stoffe wandern also zum Teil auf diesem Wege wieder zurück, und der
Milchsalzleckstein ist dem bisherigen genau ähnlich überlegen, wie die natürliche der künstlichen Düngung.
Als wir Dr. Kuntscher besuchten, war wegen des im Sommer geringeren Milchanfalles Ruhepause in der Produktion. Wir konnten also den „Molkensieder“ nicht an seinen mit Dampf geheizten Kesseln sehen, sondern in seinem kleinen Laboratorium, das er sich in einem Nebenraum eingerichtet hat und in dem er nach neuen und besseren Verwertungsmethoden sucht. Im Augenblick allerdings briet er sich nur ein paar Kartoffeln, denn er wohnt in Zöblen und bleibt den ganzen Tag im „Werk“. Vielleicht gelingt es ihm oder einem anderen Chemiker auch einmal, das Kernproblem der ganzen Molkeverwertung zu lösen: es müssen hierbei über 83 Prozent Wasser verdampft werden und das geschieht mit Heißdampf, der wiederum in einem kohlegeheizten Kessel erzeugt wird und deshalb nicht gerade billig ist. Strom wäre es — abgesehen von Sparmaßnahmen — in diesem Falle ebensowenig. Eine andere „Zerlegungsmethode“ der Molke wäre also ein ungeheurer Vorteil — und eine Erfindung, die uns trotz ihrer geringen Bedeutung für die Menschheit noch immer sympathischer wäre, als eine solche der Atome.
Aus: Tiroler Tageszeitung vom 21. Aug. 1951
Oesterreichs erste Milchzuckerfabrik enstand in Reutte

„Die Milchsäure ist unser größter Feind, sie zerfrißt nicht nur Eisen und Beton, sondern zerstört auch den Milchzucker, ehe er gewonnen ist“, sagt Brauereidirektor F. J. Zimmerling, als er die Türen zum Besuch der ersten österreichischen Milchzuckerfabrik in Reutte auftut. In einer großen Halle schweben honigsüße Düfte über Kesseln und Bottichen. Ein Laboratorium in Großformat mit schneeweißen Wänden, die mit einem säurefressenden Kalk imprägniert sind, ist in der Brauerei Reutte entstanden. Die Molkeverwertung mußte streng von der Biererzeugung getrennt werden; es besteht zwischen beiden Produktionsgängen nur in puncto Reinlichkeit etwas Gemeinsames. Wenn der große Molketankwagen vor der Milchzuckerfabrik vorfährt, geht alles wie am Schnürchen. Molke kann nicht lange gelagert werden, denn die Milchsäurebakterien vermehren sich unablässig. Deshalb wird die Molke durch eine der zahlreichen Pumpen in einen der 4500 Liter fassenden Tanks gepumpt, als welche sich ehemalige Treibstofftanks der V-2-Waffe für die Molkeverwertung wie geschaffen erwiesen haben.
Diese große Arbeitsstätte, bei der nur wenige Facharbeiter beschäftigt sind, besteht aus vielen exotisch anmutenden Geräten. Das Prachtstück dieser auf äußerste Rationalisierung bedachten technischen Anlage ist der einer Tiefseetaucherglocke ähnlichsehende Vakuumverdampfer. Durch Bullaugen sichtbar, schäumt in ihm ein Zwischenprodukt bis zum Beginn der Kristallbildung des Rohmilchzuckers. Die ganze Sache spielt sich so ab:
Zuerst wird in großen Kesseln das topfenartige Eiweiß ausgefällt, das als eines der gesündesten Milchnahrungsmittel aus der grünen Molkebrühe entsteht und vor Rindfleisch und Schellfisch den höchsten Gehalt an lebenswichtigen Aminosäuren
besitzt.
Immer in Leitungen und vor jeder Verunreinigung geschützt, saugen nun Pumpen die enteiweißte Molke durch Filter und Verdampfer, bis sich in gekühlten Kristallisiermaischen der Rohmilchzucker langsam sichtbar aufbaut. Durch Zentrifugen geschleudert, macht er über den Trockenschrank nur noch einen kurzen Weg zur Mühle, um versandfertig in Papiersäcke zu fließen.
Nächste Woche vielleicht schon wird die Lactose (dies der Name für den Milchzucker) als Nährboden für Penicillinkulturen verwendet oder wird als Füllstoff eines Heilmittels in Tablettenform der pharmazeutischen Industrie dienen. Die Milzsalze, der restliche dritte Molkebestandteil, werden in der
Veterinärmedizin gebraucht. Präparate gegen Kolik, gegen Ruhr der Haustiere und gegen die Hühnerpest sind in Vorbereitung.
In den ersten Nachkriegsjahren, als die Biererzeugung gedrosselt war, kam man bei der Suche nach einem neuen Produktionszweig auf die Verwertung der in der nahegelegenen Reuttener Molkerei bei der Käseherstellung anfallenden Molke, die damals kaum zu irgendeinem Zweck verwendet wurde und in die Kanalisation abfloß. So wurde eben die Produktion des von der Heilmittelindustrie dringend benötigten und bisher ausschließlich vom Ausland gekauften Milchzuckers aufgenommen. Mit Begeisterung und wenig Erfahrung hat man dann hier solange laboriert und experimentiert, bis eine sichere Grundlage in selbstentwickelten Verfahren erreicht wurde. Seit Mai 1948 ist die Reuttener Milchzuckerfabrik der Oesterreichischen Brau-A.-G. voll in Betrieb, und heute — nach drei Jahren — ist Oesterreich in der Rohmilchzuckerversorgung unabhängig. Bis zum Herbst aber bekommen unsere Babies auch den wertvollen Nährzucker aus frischer Alpenmilch ins Fläschchen, den bis jetzt noch holländische und schwedische Kühe liefern mußten. Die Feinmilchzuckererzeugung wurde in Reutte eben mit Erfolg aufgenommen.
Die Pionierarbeit erwies sich bereits nach dem Entstehen der Penicillinfabrik in Kundl als besonders glücklich, denn der Milchzuckerbedarf stieg damals sprunghaft an. Dadurch, daß nach vielen Verbesserungen jetzt die größtmögliche Ausbeute erreicht ist, konnte trotz steigender Kohlenpreise und anderer Belastungen der Weltmarktpreis des Milchzuckers bei unserer inländischen Produktion gehalten werden.