Südlich von Reutte gegen das Ehrenberger Schloß zu liegt ein langgestreckter, steiniger und größtenteils mit Gehölz bewachsener Höhenrücken; den heißt man den Sündwag, und hier ist früher die Wilde Fahrt viel durchgezogen.

Der alte Spilz von Ehenbichl kam einmal, wie er noch ein junger Bub war, in der frühesten Morgenstunde dahin und wollte nach den "Vogelschlagen" (Vogelfallen) sehen, die er hier aufgestellt hatte. Da hörte er mit einem male in einiger Entfernung eine wunderbar schöne Musik, so schön, wie er sie in seinem Leben noch nie gehört hatte. Gerne wäre er nun näher hingegangen und hätte nachgesehen, was denn sei; aber die Sache kam ihm hier an diesem Orte und zu dieser Zeit doch nicht ganz geheuer vor, und so getraute er sich nicht und machte lieber, daß er weiter kam. Da hörte er alsbald hinter sich ein fürchterliches Krachen und Tosen, als würden alle Tannenstämme abgebrochen oder niedergestreckt, so daß ihm die Haare zu Berge standen und er jetzt erst froh war, nicht zu vorwitzig gewesen zu sein. Es gab nun keinen Zweifel mehr, daß dies "die helle Wilde Fahrt" gewesen, und da leidet es nicht viel Spaß und Frevel.
Auch der Michel Herbst (Hörbst) erlebte Ähnliches, als er einmal des Nachts hier vorbeikam. Man hatte ihn nach Breitenwang geschickt, daß er für ein krankes Stück Vieh den Tierarzt hole. Er hörte nun von dem Sündwag herab Peitschenknallen und wildes Gerassel und Toben, und wie er näher kam, bemerkte er ein Gefährt(e), an das zwei kleine Rößlein angespannt waren. Blitzschnell fuhr es durch das Dickicht und zwischen den Bäumen hindurch und dann wieder zurück, ohne irgendwo anzurempeln. Noch von ferne hörte er das Peitschengeknall und Getöse.
Ein andermal fuhren zwei Ehenbichler nachts hier vorbei und wollten in Reutte einen Geistlichen zu einem Kranken holen. Am Alten Büchel unter der Kapelle rief eine Stimme von dem Sündwag herüber: "Bleibet da! bleibet da! bleibet da!" Sonderbarer Weise aber hatte dies nur der eine von ihnen gehört, während der andere nicht das Geringste davon vernahm. Wie sie nun weiter waren, bemerkten sie den Sündwag voll von Reiterei, die wild hin und her sprengte, und darunter glaubten sie auch deutlich ein Gefährt(e), ähnlich einer Kutsche, zu erkennen.
Auch in dem nahen Reutte hat man früher die Wilde Fahrt öfters gehört, die dann gewöhnlich von der Gernspitze herkam, durch die "Gasse" in Reutte durchzog und sich dann jedesmal durch die Kög dem Sündwag zuwandte. Man vernahm dabei die herrlichste Musik, und es war oft, als sähe man einen Wagen voll sonderbarer Leute dahin fahren. Wer gerade zu der Zeit unterwegs war, konnte sich vor dem Mitgenommenwerden nur retten, wenn er sich niederwarf und das Gesicht zur Erde wandte. Auch zum offenen Fenster durfte man da nicht hinaussehen. Wer es dennoch t(h)at, wurde verrückt und zeitlebens nicht mehr recht.
Nur im Brautstand brauchte man nichts zu befürchten, denn da hat man mehr Gewalt und (es) geschieht einem von der Wilden Fahrt nichts.
Reiser, 1895